Dom Halberstadt Innenraum nach Osten
Dom Halberstadt Innenraum nach Osten

 

 

Spätmoderne Tagzeitenliturgien

Im Dom zu Halberstadt werden in der kommenden Zeit zu bestimmten Anlässen neue Gottesdienstformen ausprobiert. Sie orientieren sich an Tagzeitenliturgien, sind ökumenisch vorbereitet und gefeiert und wollen auch Menschen ansprechen, die einfach das Bauwerk und die Kunstschätze lieben. Der Dom und seine Ausstattungsgegenstände sind als geistliche Kunstwerke zu verstehen, die vom Glauben und den Zweifeln ihrer Schöpfer erzählen.

Die Tagzeitenliturgie will an das traditionelle Stundengebet anschließen, gleichzeitig aber auch spätmoderne Religiosität aufnehmen. Ein Kernmerkmal der spätmodernen Religiosität ist die Orientierung am eigenen Erleben. Nicht mehr »Lehrsätze« bestimmen den rechten Glauben, sondern authentisches Erleben. Damit wird als bedeutende religionsgeschichtliche Veränderung das Verschwinden des Rechtgläubigkeitstopos angezeigt. Aus diesem Grund müssen mehr Inszenierungen und körperliche Vollzüge in die Tagzeitenliturgie übernommen werden. Hier ist eine klare Distanz zum traditionellen Stundengebet zu erkennen. Dort ist das Wort »Gebet« bestimmend und ruft so eine meditative Haltung hervor. Auch die feste Position im Raum, i.d.R. im Chorgestühl in zwei Gruppen, wird spätmodern hinterfragt und zumindest für einige Teile der Tagzeitenliturgie aufgebrochen.

In spätmoderner Perspektive gibt es keine anerkannten Formen mehr, die bekannt und vertraut sind und nun vielleicht mit neuen Inhalten gefüllt werden sollen. Deshalb kombinieren die Metten und Vespern alte und neue Formen, alten und neuen Inhalt und entwickelt ihre eigene Sprache im spannungsvollen Wechselspiel zwischen Inhalt und Form. Gerade die »Unkenntnis« von traditionellen christlichen Formen wird genutzt, um die jahrhundertelang geprägten Formen und Worte ‒ Psalmen, biblische Geschichten, rituelle Vollzüge wie Prozessionen und Segnen mit Salböl, Wechselgesang und Psalmodie ‒ neu ins Spiel zu bringen.

Eine weitere Spannung besteht zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die Lieder und Gesänge sollen Gemeinschaft ermöglichen und erlebbar machen. Deshalb werden Lieder wiederholt und einfaches Singen, wie z.B. der Psalm auf einem Ton, aufgenommen. Individuelle Phasen, z.B. der eigene Weg in die Kirche, Stille, meditativ-wiederholter Gesang und Einzelsegen, wechseln mit Gemeinschaft durch Singen und Hören.