1. Theoretische Einführung
Hymnologie wird seit Schleiermacher als Teil der Praktischen Theologie angesehen. Doch wird Hymnologie heute als interdisziplinäre Wissenschaft verstanden. Theologische Überlegungen zum Liedtext, Reflexionen aus der Literatur- und Sprachwissenschaft, Biografieforschung, wie das Leben der Autoren sich in den Liedern eingeschrieben hat, historische Studien zur Entwicklungen und Rezeption in textlicher und musikalischer Hinsicht und natürlich die Musikwissenschaft, wirken zusammen.
Doch m.E. fehlt eine Methodik, die das Lied als erklingende Realität erforscht.
Hymnologie ist eine singende Wissenschaft. Anhand einiger Unterscheidungen öffne ich den Blick für eine ergänzende Methodik.
Im Zentrum meiner Untersuchung steht das Singen der Lieder.
Man könnte den traditionellen Zugang als deduktiven verstehen, dann wäre mein Ansatz ein induktiver. Der deduktive Zugang hat die Aufgabe werkästhetische Untersuchungen vorzunehmen, während es beim induktiven eher um rezeptionsästhetische und ein bisschen um produktionsästhetische Zugänge geht. Die traditionelle Hymnologie untersucht die Lieder, die die Christen seit 2000 Jahren singen. Sie hat also eine historische Ausrichtung. Die ergänzende Methodik vernachlässigt diese historische Perspektive und nähert sich so dem aktuellen Klanggeschehen.
Im Hintergrund steht die alte Frage, ob der primäre Zugang zu den Liedern und damit auch das Bestimmende der Interpretation der Text oder die Musik ist. Ich will mit meinem Ansatz die Entgegensetzung überwinden. Der Zugang zum Lied erfolgt sowohl über die Melodie als auch über den Text, denn gerade die Verbindung von beidem, das gleichzeitige Auftreten ist das Eigentliche des Liedes. Das gleichzeitige Auftreten ist am Überzeugendsten im Singen gegeben. So könnte man in der traditionellen Hymnologie eher den Textzugang sehen, während beim Singen die Melodie ein starkes, vielleicht ein stärkeres Gewicht bekommt.
Für mein Projekt steht nicht das Was, sondern das Wie des Singens, das an der Aufführung, Performance interessiert ist, im Zentrum. Das Lied existiert dabei nicht als Gegenstand auf dem Papier und kann unabhängig vom Ort erforscht werden, sondern das Lied existiert nur im Augenblick des Singens und ist so an den Ort des Singens gebunden. Das Wie des Singens zeigt eine andere Form der Bedeutungsentstehung als das lange, stille quasi meditierende Nachdenken über das Lied. Die Bedeutung entsteht jeweils neu im aktuellen Singen. Diese Bedeutung steht damit nicht fest, sondern sie entsteht im Singen. Wenn mehrere zusammen Singen, dann ist das Verfahren zur Bedeutungsentstehung ein (vielleicht unbewusster) Aushandlungsprozess zwischen den Singenden. Die Form von Bedeutung die hier entdeckt wird ist anders als die, die durch historische Forschungen oder durch das nachdenkende Singen von Christa Reich entsteht. Es ist keine konsistente, sondern eine flüchtige Bedeutung, die aufleuchtet wie ein Regenbogen, für den Sonne und Regen ‒ Text und Melodie ‒ gleichzeitig erscheinen müssen und der dann seine Wirkung entfaltet. Sobald Regen und Sonne auseinandertreten, verschwindet der Regenbogen.
In dieser Form der Bedeutung erkenne ich eine Nähe zum spätmodernen Menschen. Der Augenblick des Erlebens, des Singens zählt. Keine Ausdehnung auf einen längeren Zeitraum oder das ganze Leben.
Rektor der Hochschule für Kirchenmusik der Evangelischen Kirche von Westfalen (Herford & Witten)
Prof. Dr. Jochen Kaiser
Kirchenmusiker, Liturgiewissenschaftler & Musikwissenschaftler
kirchenmusikerkaiser@gmx.de