Die Dokumentarische Methode
Die Dokumentarische Methode greift auf die Wissenssoziologie von Karl Mannheim zurück und will einen Zugang zum handlungsleitenden Wissen der Akteure eröffnen. Ralf Bohnsack, der diese Methode entwickelte schreibt:
»Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und z. T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert.«
Das Wissen der Handelnden wird nicht verlassen. Es wird nicht hinter ihrem Rücken etwas anscheinend Objektives erkannt. Die praxeologische Wissenssoziologie nimmt die handlungspraktische Herstellung und Konstruktion von Welt auf. Dafür werden konjunktive Erfahrungsräume analysiert, in denen sich Menschen ohne Interpretation verstehen.
Die einzelnen Schritte will ich gleich mit einem Beispiel verbinden. Ingrun H. erzählte mir von einer Osternacht in der Jugendkirche Tabgha. Nach einführenden Bemerkungen über ihre Verbindung zur Kirche durch die Musik und die Band, die die Musik machte, erzählt sie von der Osternacht.
So etwa 6 Wochen vor Ostern begannen wir bereits mit der Auswahl und dem Ausprobieren einzelner Lieder. Uns war es wichtig, nicht irgendwelche Lieder zu singen, sondern stets den Bezug zu den Lesungen, zur Liturgie und eben zur jeweiligen Stimmung im Blick zu haben.
In der Karwoche schlugen wir unsere Zelte auf, d.h. bauten unser Equipment in der Kirche auf, und probten viele Abende und Stunden lang. Immer wieder kamen uns neue Ideen, die wir in die Gestaltung der Lieder einbauten.
Am Karsamstag begann es dann, um 21.00 Uhr in der stockfinsteren Kirche - mit Rhythmen, die aus Steinen geklopft wurden, bis wir die Steine im wahrsten Sinne ins Rollen gebracht haben. Ruhige a capella Musik als Anwortgesang auf die Genesislesung, alles noch in der dunklen Kirche. Manchmal zitterten unsere Stimmen noch. Nach und nach verließ einen das Lampenfieber. In die dunkle Kirche kam das Licht durch die Osterkerze und es wurde durch viele Kerzen verbreitet. – Dazu das Lied „Im Angesicht der Nacht“. Spätestens bei meinem Solo in der Tenorflöte bekam ich eine Gänsehaut. Und bei Liedern wie „Überleben“ oder „Im Sterben und Auferstehn“ wusste ich, das ist genau die Botschaft dieser Nacht, die durch diese Lieder irgendwie erfahrbar und zum Ausdruck gebracht wird. Es war so schön, zu merken, wie der Funke auf die anderen Gottesdienstbesucher übersprang, sie ansteckte und begeisterte, so dass bei dem Lied „Steht auf vom Tod“ zur Gabenbereitung echt die Party abging.
Ganz ehrlich habe ich durch das Singen und musizieren, das so viele Menschen ansteckte und begeisterte, immer einen gewissen Kick gekriegt, das war nach der Messe irgendwie so ein Gefühl, etwas High zu sein – aber irgendwie das Gefühl, ja das ist hier gerade wirklich ein Fest, eine Auferstehungsfeier, und irgendwie die Wurzel meines Glaubens.
Ich glaube einfach, dass Musik es bei mir schafft, mich auf eine andere Ebene zu bringen, eine Ebene, in der ich selbst gelöster und freier bin und die mir dann einen bewußteren Zugang zu mir, meinen Mitmenschen und Gott öffnet.
Der erste Analyseschritt ist die Formulierende Interpretation, sie fragt nach dem Was, also Was wird gesungen und was ist die Bedeutung. Damit steht der subjektiven Sinn im Mittelpunkt. In dieser Perspektive gibt es aufgrund der individuellen Lebenssituationen der Befragten und der vielfältigen Kontexte, in denen ein Lied erklingt, eine unendliche Vieldeutigkeit.
Die Erzählung wird in Abschnitt geteilt und mit Worten aus der Erzählung nacherzählt. Die zentralen Stellen zeichnen sich dadurch aus, dass sie etwas Einmaliges erzählen und keine generalisierenden Worte, z.B. immer, verwenden. Ziel dieses Schrittes ist es, die Erzählung intersubjektiv überprüfbar zu fassen. Diese Analyse ist für die kommenden Schritte nicht mehr wichtig. Es folgt dieser schlichten Form des Nacherlebens ein Perspektivwechsel.
Im zweiten Schritt, der Reflektierende Interpretation, wird nach dem Wie des Singens gefragt. Damit treten eher die sozialen Bedingungen des Singens in den Fokus. Soziale Bedingungen sind aber immer von längerer Dauer und Festigkeit als individuelles Erleben und subjektive Einstellungen.
Nicht mehr was gesungen wird, also die Lieder oder was gefeiert wird, die Osternacht oder was die Bedeutung ist, die Wurzel des Glaubens, werden jetzt analysiert, sondern wie die Lieder gesungen werden und wie die Entwicklung verläuft, wie die Bedeutung für Ingrun entsteht.
Dazu ist es hilfreich, Wissen über die Sozialisation der Erzählenden zu haben. Ingrun hatte zur Kirche und zum Gottesdienst durch die Musik eine Verbindung.
Bei den Wie-Fragen, erkennt man in der Schilderung von Ingrun, und das will ich nur andeuten, einige Dimensionen:
a) Damit Musik im Gottesdienst zur Passung kommt, bedarf es längere Übung, in der Gruppe und im Kirchenraum.
b) Homologie – damit ist ein Muster gemeint, das immer wieder auftaucht: Bei Ingrun fällt auf, dass sie immer wieder von kommunikativen Situationen durch Musik erzählt. Kommunikation, so heißt am Ende des Textauszuges: mit sich selbst, den anderen und Gott.
c) trotz langer Übung und Einübung im Raum, ja sogar, so schreibt sie, einem Vorfühlen des Gottesdienstes, ist die konkrete Aufführung ein Wagnis und führt zu einem Flow, wenn der „Funke“ überspringt. Damit spricht sie die Feedbackschleife an.
Den Anfang der Analyse bilden einzelne Fälle, wie z.B. der Bericht von Ingrun H. Zentral ist dann die Komparative Analyse, die immanent einen und dann auch mehrere Fälle nebeneinander legt. So erkennt man Gemeinsames und Trennendes und kann Orientierungsrahmen benennen. Mit Orientierungsrahmen wird das unmittelbare Verstehen innerhalb eines konjunktiven Erfahrungsraumes expliziert. Im Handeln, z.B. im Gottesdienst, reflektiert der Einzelne nicht über die notwendigen Handlungen, sondern er vollzieht sie. Der Orientierungsrahmen zeigt an, wie weit dieses »Verstehen ohne Worte und Erklärungen« reicht. Orientierungsrahmen sind immer in der Mehrzahl zu sehen, sie überlagern sich und zeigen die Komplexität unserer Lebenswelt. Die Reflektierende Interpretation will einige Orientierungsrahmen sprachlich fassen. Diese Orientierungsrahmen kann man nur im Vergleich unterschiedlicher Fälle erkennen. Daran knüpft dann auch die Typenbildung an.
Es können nur die Orientierungsrahmen expliziert werden, die in mehreren Fällen auftreten. In meiner Dissertation bearbeitete ich die sog. »individuellen Reste«, also die Teile, die singulär in den Erzählungen blieben, in der postmodernen Theorie des »Thirdspace«.
Die Dokumentarische Methode ist das Verbindende für die vielfältigen Daten, denn es werden Videos von Gottesdiensten, Beobachtungsprotokolle, Gespräche nach den Gottesdiensten, Erlebnisberichte und Erzählungen vorliegen, die dann alle mit der Dokumentarischen Methode untersucht werden.
Rektor der Hochschule für Kirchenmusik der Evangelischen Kirche von Westfalen (Herford & Witten)
Prof. Dr. Jochen Kaiser
Kirchenmusiker, Liturgiewissenschaftler & Musikwissenschaftler
kirchenmusikerkaiser@gmx.de